Manche Eigenschaften von Bitcoin klingen abstrakt. Es geht um digitales Eigentumsrecht, Unzensierbarkeit, Dezentralität und vieles mehr. Doch je tiefer man sich in den Bitcoin-Kaninchenbau buddelt, umso mehr stellt man fest, dass Nakamoto mit Bitcoin teilweise sogar sich gegenseitig ausschließende Eigenschaften umgesetzt hat. Dazu gehören die Themen Privatsphäre und Eigentum. Denn tatsächlich stehen sich bei Bitcoin ein unzensierbares pseudonymes System und eine extreme Form des Eigentumsrechts gegenüber.
Tatsächlich ist es schwierig, zugleich seine Eigentumsrechte geltend zu machen und anonym oder pseudonym zu bleiben. Vordergründig ist es so, als würde man als Unbekannter (Anonymität) ein Buch veröffentlichen, aber offiziell auch Urheberrechte geltend machen (geistiges Eigentum). In unserer Gesellschaft ist das nicht so leicht möglich, da Eigentum an die offizielle und staatliche Identität gebunden ist.
Noch anschaulicher wird das Thema am Beispiel einer Analogie, die allerdings aus der Zeit lange vor Bitcoin stammt. Es ist das Beispiel des Stacheldrahts bei Timothy C. May im Crypto Anarchist Manifesto von 1988.
Die „Barbed Wire“ Analogie finden wir zuerst in einem der kürzesten aber spannendsten Texte der Cypherpunk Bewegung, und zwar im Crypto Anarchist Manifesto von Timothy C. May aus dem Jahr 1988. Während der Normalbürger noch nie etwas vom Internet gehört hatte, hatten die Köpfe der sich erst Anfang der 90er Jahre formierenden Cypherpunks schon ein klares Bild vom Informationszeitalter und seinen Verheißungen und Gefahren gemacht. Wer die Thesen in The Sovereign Individual von 1997 prophetisch findet, sollte sich auf jeden Fall vor Augen führen, was die Kryptoanarchisten schon ein Jahrzehnt vorher diskutierten.
Mit Arbeiten wie „Security without Identification: Transaction Systems to Make Big Brother Obsolete“ von David Chaum aus dem Jahr 1985 setzte die aufkommende Bewegung einen Kontrapunkt zu den Tendenzen der Zentralisierung und Kontrolle – auch wenn deren tatsächliche Gefahr noch in weiter Ferne lag. Timothy C. May war ein libertäre eingestellter ehemaliger Intel Mitarbeiter, der sich mit 35 aus dem Unternehmen verabschiedet hatte. Er wurde Mitbegründer der Cypherpunks und schreib einflussreiche Texte. Darunter war das Crypto Anarchist Manifesto, das er 1988 auf einer Hacker Konferenz verteilte.
Darin weist May auf die große Zukunft der Kryptographie hin, die schließlich die große Vision der Anonymität und Privatsphäre im Cyberspace verwirklichen sollte. In dem aus heutiger Sicht fast furchteinflößend visionären Essay zeigt May welche Möglichkeiten die verschlüsselte Kommunikation zwischen Menschen bieten konnte. Er verglich sie nicht nur mit der Erfindung der Druckerpresse, sondern wählte eine Analogie, die es in sich hatte: Die Erfindung des Stacheldrahts.
May schrieb:
“just as a seemingly minor invention like barbed wire made possible the fencing-off of vast ranches and farms, thus altering forever the concepts of land and property rights in the frontier West, so too will the seemingly minor discovery out of an arcane branch of mathematics come to be the wire clippers which dismantle the barbed wire around intellectual property.”
Interessanterweise geht aus dem Vergleich hervor, dass die bevorstehende (staatliche) Überwachung und Einschränkung des Individuums mit der Erfindung des Stacheldrahts einhergeht. Die Kryptographie ist es aber, die den Stacheldraht um das intellektuelle Eigentum durchschneidet. Das von May gewählte Bild ist aus heutiger Sicht an Genialität und Ambivalenz kaum zu überbieten. Denn dank Bitcoin funktioniert das Bild sogar in zwei Richtungen.
Aber der Stacheldraht ist eine häufig unterschätzte Erfindung und die wenigsten Menschen wissen, welche Implikationen sie beinhaltete. In den USA war die so genannte „Frontier“, also das Grenzland zwischen den besiedelten und „zivilisierten“ und den unerschlossenen Gebieten immer weiter nach Westen gewandert. Man sah es als göttlichen Auftrag, als „Manifest Destiny“, das ganze Land zu besiedeln. Dafür hatte Abraham Lincoln 1962 den Homestead Act auf den Weg gebracht. Darin wurde festgelegt, dass jeder „ehrliche Bürger“ Land kostenlos in Beschlag nehmen konnte. Alles, was man für sein Eigentum tun musste: Es sich durch landwirtschaftliche Nutzung zu eigen machen.
Doch das Bestellen der Felder in der riesigen Prairie war nur schwer möglich. Denn das Land war praktisch eine einzige freie Fläche. Sie war unwirtlich, von wilden Gräsern bewachse, teils schwer zugänglich und wurde von Cowboys, Ranchern oder Ureinwohnern teils fast nomadisch genutzt. Land abzugrenzen war entweder teuer oder ineffektiv, weil weder Holzzäune noch gepflanzte Hecken unbeliebte Besucher fern halten konnten.
Eine einzige und auf den ersten Blick winzige Erfindung änderte alles: Die Art der landwirtschaftlichen Nutzung, den Umgang mit öffentlichen Flächen und das Konzept von Eigentum. Es war die Erfindung des Stacheldrahts. Ein neuartiger Zaun wurde 1875 als „Greatest Discovery of the Age“ beworben. Patentiert von Joseph Glidden aus Illinois sei er „lighter than air, stronger than whiskey, cheaper than dust.“ Und tatsächlich brachte er eine Transformation des amerikanischen Westens mit sich. Der doppelte, verdrehte Draht mit den Stacheln wurde überall genutzt – von Eisenbahngesellschaften, die ihre Strecken abgrenzten, von Ranchern, die Felder abgrenzten oder Viehzucht betrieben und allen anderen, die damit kennzeichneten und schützten, was „ihres“ war.
Stacheldraht war ein zweischneidiges Schwert. Siedler liebten ihn, weil es Eigentum zur Tatsache machte. Cowboys, die das freie Land extensiv nutzten, hassten den gefährlichen Draht, der zu Verletzungen und Infektionen führte. Die indianischen Ureinwohner wurden immer weiter von ihrem Land vertrieben, denn ihr Konzept von Eigentum bestand nicht darin, feste Grenzen zu ziehen. Kein Wunder, dass sie Stacheldraht schnell als „the devil‘s rope“ bezeichneten. Auch alteingesessene Cowboys lebten nach dem Prinzip, dass die große Prairie Allgemeingut war und Vieh frei laufen konnte – das Gesetz der „open range“.
Stacheldraht war eine disruptive Erfindung und es entbrannte schnell ein Kampf darüber. In den „fence-cutting years“ schnitten maskierte Gangs wie die Javelinas oder Blue Devils Zäune durch und bedrohten Siedler, die sie aufstellten, bis der Gesetzgeber einschritt. Der Stacheldraht sollte bleiben.
Interessant ist, dass Cypherpunk Timothy C. May das Bild des Stacheldrahts nutzt, um die Erfindung der Kryptografie als Gegenbild darzustellen. Sie war eine ebenso unterschätzte und scheinbar kleine Erfindung, die aber erfolgreich „wire-cutter“ spielte. Das Ideal der freiheitlichen „open range“ wurde wieder hergestellt und anders als die Gangs, die am Ende zur Strecke gebracht wurden, sollte Mathematik nicht zu stoppen sein.
Das Bild ist großartig, weil es die Logik auf den Kopf stellt. Stacheldraht zog Grenzen in der Freiheit. Doch eine winzige Drahtschere kann sie wieder aufheben. Und wie mit einem Kampfschrei endet das Crypto Anarchist Manifesto: „Arise, you have nothing to lose but your barbed wire fences!“
Heute ist mit Bitcoin eine der Visionen der Cypherpunks in der Realität angekommen. Tatsächlich sind wir genau auf dem Weg, den das Crypto Anarchist Manifesto prophezeit hatte, auch in ökonomischer Hinsicht. Kryptographische Methoden, so der Text, würden „fundamentally alter the nature of corporations and of government interference in economic transactions.“ Wir sind auf dem allerbesten Weg in diese Realität – dank Bitcoin.
Doch obwohl das Bild des Stacheldrahts, der ein freies Land in Parzellen unterteilte, so unsympathisch auf uns wirkt, hat die mathematisch-ökonomische Erfindung von Satoshi Nakamoto ein paar Ähnlichkeiten mit der disruptiven Erfindung des 19. Jahrhunderts. Auch Bitcoin ist auf den ersten Blick eine kleine mathematische Entdeckung, die so unscheinbar daherkommt. Doch Bitcoin ändert ein paar Dinge fundamental.
Die Ambivalenz besteht darin, dass es auf der einen Seite tatsächlich die Vision einer „open range“ ist, die die Widerstände, Grenzen und (staatliche) Überwachung wie eine Drahtschere durchschneidet. Auf der anderen Seite aber erlaubt Bitcoin gerade das mühelose Abgrenzen des Eigentums. Bitcoin ist ein bisschen wie „barbed wire“ für die Eigentumsrechte in der digitalen Welt. Denn erst die Genialität dieser Erfindung, die kryptografische Verschlüsselung in Verbindung mit der Timechain, macht das zunächst nur theoretische Recht auf Eigentum zu einer Realität. Bitcoin ist Stacheldraht und Drahtschere zugleich.
Denn Bitcoin Transaktionen zeigen, obgleich pseudonym, viele formelle Aspekte des Eigentumsrecht, wie wir es zum Beispiel von Immobilien kennen. So werden Eigentumsverhältnisse öffentlich eingetragen und lückenlos über die zusammenhängenden Blöcke dargelegt. Sie sind dabei öffentlich für jeden einzelnen zugänglich und überprüfbar. Und es wird sichergestellt, dass keine doppelten Ansprüche existieren. Die Timechain wird eine Art öffentliches Grundbuchamt. Diese Merkmale und Prozesse auf ein pseudonymes System zu übertragen, ist tatsächlich einmalig – „barbed wire“ und „wire cutter“ zugleich.
Und während die Kritiker dieser Technologie sich mit oberflächlichen Analogien wie der Tulpenmanie bemühen, wissen Bitcoiner, dass allen Fragen, um die es bei Bitcoin geht, fundamentale philosophische Debatten zu Grunde liegen. Und dass Philosophen wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau ganze Bücher über die Grundfragen dieses digitalen Rohstoffs schreiben würden, wenn sie noch am Leben wären.
Denn was besitzen wir eigentlich neben unserem Körper? Das, was wir mit unserer Arbeit bestellen? Das, was wir transformieren? Oder einfach das, was wir abgrenzen und verteidigen können?
Das gesamte Crypto Anarchist Manifesto findet ihr hier.